Die Gunst der frühen Stunde

Die Gunst der frühen Stunde

Der Vorabend ist für einen TV-Sender Kür und Pflicht zugleich. Hier muss das Programm dem Zuschauer den Übergang aus seinem anstrengenden Berufsalltag in die Erholungszone schmackhaft machen. Auch für Werbebotschaften hängt die Messlatte hoch: je kürzer und sinnstiftender, desto wirksamer.

Als die Fernsehbilder noch von leicht gewölbten Mattscheiben flimmerten, versammelte sich zu einer Sendung für gewöhnlich die gesamte Familie auf den Polstermöbeln. Die Programme waren überschaubar: Es gab derer drei. Heute konkurrieren eine zig-fache Anzahl frei empfangbarer Sender mit Bezahlkanälen um die begehrten Plätze auf der Fernbedienung. Hinzu kommen bewegte Bilder auf PCs, Laptops oder dem Smartphone – an Auswahl zur Zerstreuung herrscht wahrlich kein Mangel.
Doch wenngleich die öffentliche Wahrnehmung eine große Dominanz des Internets im Arbeits- und Freizeitalltag der Menschen suggeriert: TV ist immer noch das unbestrittene Leitmedium. Das traditionelle Programmfernsehen macht 98 Prozent der gesamten Fernsehnutzung aus. „Am grundlegenden Bedürfnis der Menschen, sich entspannt zurückzulehnen und zu unterhalten, live und mit Freunden oder der Familie, wird sich so schnell auch nichts ändern“, sagt Uwe Esser, Geschäftsleitung TV bei ARD-Werbung Sales & Services, Frankfurt (siehe Interview).
Bei der Bewältigung und Strukturierung des Alltags spielt das klassische Fernsehen also nach wie vor die zentrale Rolle. Kein anderes Medium ist so tief im Menschen verankert wie Fernsehen, das einem festen Programmablauf folgt – sozusagen eine „gelernte Kulturtechnik“, die das Gefühl vermittelt, nahe am Geschehen zu sein.
Dabei entstehen natürlich auch Schlüsselreize für die Online-Welt: Denn durch die steigende Parallelnutzung von TV und Online wird das Fernsehen immer öfter selbst zum Top-Thema im Internet und den sozialen Netzwerken – etwa, wenn der Tatort bei den Twitter-Nutzern während der gesamten Sendezeit „durchkommentiert“ wird. Das Fernsehen liefert also die Inhalte, über die man im Netz spricht und bei Google sucht. "Die Zauberworte der Zukunft heißen Intensität und Einbettung", sagt der Zukunftsforscher Andreas Neef vom Institut Z_Punkt, Köln. "Fernsehen wird als Knotenpunkt der Entwicklungen zu einer Art Super-Medium, aber fügt sich zugleich ein in eine künftige Mediensphäre."
Dass die Mediennutzung neben radikalen Veränderungen aber auch durch eine große Stabilität geprägt wird, bestätigt der Frankfurter Markt- und Mediaforscher Dirk Engel. „Fernsehen ist wie das Lagerfeuer, wo sich die Sippe versammelt. Facebook sind nur Rauchzeichen, um über Distanzen zu kommunizieren.“ Die Geschwindigkeit des Wandels wird aus seiner Sicht oft überschätzt und Stabilität vernachlässigt. „Aber Fernsehen ist geprägt von Ritualen im Tagesablauf und psychischen Bedürfnissen, die sich nur wenig verändern.“
Etwa, wenn es um die Informationsbeschaffung geht. Fakt ist nämlich: Über Deutschland und das Weltgeschehen informieren sich 14- bis 29-Jährige am liebsten via Fernsehen – vor der Quelle Internet. Das geht aus der Studie Informationsrepertoires der Deutschen des Hamburger Hans-Bredow-Instituts hervor. So ist die Tagesschau (ARD) um 20 Uhr für alle Altersgruppen die Info-Quelle schlechthin für politische Themen (29 Prozent) und verweist die Suchmaschine Google (6,8 Prozent), das Boulevardblatt Bild (6 Prozent) sowie die heute-Nachrichten des ZDF (5,6) auf die Plätze. Auch die 14- bis 29-Jährigen holen sich Politik-Wissen an erster Stelle bei den Nachrichten im Ersten (28,1), die für die Jüngeren in ihrer Quellennutzung mit Abstand vor mehreren Internetanbietern liegt. Es folgen spiegel.de (12 Prozent), google.de (11), web.de (9) und facebook.com (7,5). Die 30- bis 59-Jährigen stützen sich hauptsächlich auf das ARD-Traditionsformat (26 Prozent), gefolgt von Bild (7,3 Prozent). Wer über 60 Jahre alt ist, verlässt sich maßgeblich bei seiner Meinungsbildung auf traditionelle Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Anbieter.
Überhaupt dreht es sich bei der Frage nach den künftigen medialen Vorlieben der Menschen viel mehr um psychologische Faktoren, als wir gemeinhin annehmen. So befindet sich der vom Tagwerk geprägte Zuschauer gerade in den Vorabendstunden zumeist noch gar nicht in der Stimmung für digitale Kommentarschleifen in den sozialen Netzwerken – die er überdies aktiv selbst gestalten müsste. Er will zunächst eher das Korsett des beruflichen Alltags gegen eine Wohlfühlverfassung eintauschen, bestätigt Holger Meisen, Geschäftsführer der auf morphologische Marktforschung spezialisierten Beratungsagentur Emsulting, Köln. „Der Fernsehzuschauer stellt am Vorabend eine Art ‚Flow‘ her, der ihm Zerstreuung, Ablenkung, Linderung, Tröstung, aber auch Verdrängung bieten soll. Mit dem Ziel, halbwegs zur Ruhe zu kommen, wenn auch nur auf Zeit, und um nicht in ein Loch zu fallen.“
In einer psychologischen Studie hat sich das Kölner Institut mit den individuellen Verfassungen des Vorabends beschäftigt, und dazu 42 mehrstündige Tiefenund Kreativ-Interviews mit regelmäßigen TV-Sehern zwischen 20 und 65 Jahren geführt. „Der Vorabend läuft dabei in der Regel ritualisiert ab“, bilanziert Meisen. „Die Zuschauer wissen, wann ‚ihre‘ Sendungen laufen. Das TV-Programm wird zudem mal mehr und mal weniger konzentriert verfolgt, oft laufen andere Tätigkeiten wie Kochen und Aufräumen nebenher.“
Die Analyse konnte zeigen, dass das Gefühl des „Verloren-Seins“ am Vorabend durch die TV-Rezeption und das unbewusst-gezielte Aufsuchen bestimmter Vorabendformate gelindert und kompensiert wird. Auch Werbung, so ein Ergebnis der Studie, kann an diesem kulturell bedingten Grundgefühl ansetzen und ausgleichend wirken. „Wenn dies gelingt, dann wird Werbung für den Zuschauer bedeutsam und wertvoll“, so Meisen.
Der Vorabend ist für den Emsulting-Chef daher eine hervorragende und zugleich diffizile Zeit für Werbung. „Werbebotschaften kommt gerade am Vorabend die Aufgabe zu, das hier aufkeimende Gefühl des Verloren- Seins produktiv aufzugreifen und sinnstiftend zu werden.“ Der Zuschauer ist nach seinen Analysen am Vorabend besonders empfänglich für werbliche Ansprache, die ihm ein Stück Sinn und Lebendigkeit gibt. Zugleich sei er aber auch empfindlich für Einblendungen, die das Gegenteil erreichen und die eher das vom gesellschaftlichen Druck ausgelöste Gefühl der Überforderung befeuern. Das Ergebnis wäre dann: Der Mensch vor der Mattscheibe schaltet um und speichert das werbende Unternehmen nicht als sympathische Marke ab.
Für die Werbung am Vorabend bedeutet das: Je länger ein Werbeblock dauert, umso geringer ist die Bereitschaft, ihn sich anzusehen. Kürzere Werbeblöcke – sowie Scharnierwerbung, Mischung mit Programmvorschau oder Singlespots – führen dazu, dass man sich einen Werbeblock eher anschaut, insbesondere wenn man erwartet, dass das Programm jeden Moment weitergeht. „Ein kurzer Block wird im direkten Vergleich zu einem längeren Werbeblock als entlastend und angenehmer erlebt.“
Als Reichweiten-Turbo, als große Bühne mit Millionenpublikum scheint TV als Basis für die Marketingkommunikation jedenfalls ohne Alternative. Wie kein anderes Medium kann Fernsehen in unserer fragmentierten Medienlandschaft immer noch am schnellsten eine hohe Reichweite aufbauen. Das ist deshalb von so hoher Bedeutung, weil 80 Prozent der menschlichen Entscheidungen nicht rational und bewusst getroffen werden, sondern unterbewusst und emotional. Die wahren Entscheider beim Gang durch die Regale im Supermarkt sind die Gefühle. So hat der latente Erfolg des Fernsehens eigentlich einen schlichten Grund: Bewegte Bilder bewegen die Menschen buchstäblich emotional. „Fernsehwerbung gibt Marken eine Haltung und macht sie dadurch wertvoller“, urteilt Frank Dopheide, Geschäftsführer der Agentur Deutsche Markenarbeit, Düsseldorf.
Dass Kampagnen erst durch TV-Spots Substanz gewinnen, befindet der Marktforscher Dirk Ziems, Geschäftsführer bei Concept M in Köln. Er hat sich ausführlich mit den Wirkungseffekten von Fernsehwerbung im intermedialen Vergleich beschäftigt. „Im Kampagnen-Orchester behält der TV-Spot die zentrale Dirigentenrolle, weil nur er Breitenwirkung auslöst. Alleinige Online- oder Printpräsenz bringt keine Markenbotschaften in Gang.“
Ein Spot bewege als filmische Erzählung tausend Mal mehr als jedes Printmotiv oder jeder Web-Banner. Denn: Der TV-Spot involviert in einen Erlebensstrom, der eine mitreißende Dramaturgie der Emotionen ermöglicht. Botschaften bekommen eine emotionale Wucht, weil Verwandlungsanstöße mitreißend in Szene gesetzt würden. Ziems’ Bilanz fällt daher auch eindeutig aus: "TVSpots haben im Rahmen der traditionellen sowie auch der neuen und zukünftigen Kampagnenformen eine zentrale und unabdingbare Funktion."

Die Fernse hnutzung steig t weiter

Im vergangenen Jahr wurde in Deutschland so viel fern gesehen wie nie zuvor. Die tägliche TV -Nutzung von 225 Minuten (Zuschauer ab 3 Jahre) bedeutet ein neuerliches All-Time-High, nachdem bereits im Jahr 2010 mit einer täglichen Sehdauer von 223 Minuten ein Rekordwert verzeichnet wurde. Um ebenfalls 2 Minuten (von 237 auf 239 Minuten) legt die Sehdauer der Zuschauer ab 14 Jahre zu. Selbst bei den Zuschauern zwischen 14 und 19 Jahre, die wie keine andere Altersgruppe Internet und Social Media in ihren Alltag integrieren, erhöht sich die tägliche Fernsehnutzung um 3 Minuten auf 111 Minuten. Die werberelevante Kernzielgruppe 14 bis 49 Jahre (192 Minuten) bleibt auf hohem Niveau ebenso unverändert stabil wie die Referenzzielgruppe 20 bis 59 Jahre (221 Minuten). Interessant ist – auch vor dem Hintergrund der dynamischen Verbreitung des Internets – der Blick auf die unterschiedlichen Altersgruppen im Langzeitvergleich: Alle Altersgruppen sehen heute mehr fern als noch vor zehn Jahren. So steigerte sich die tägliche Fernsehnutzung zwischen 2000 und 2011 bei den 14- bis 29-Jährigen um 3,7 Prozent auf 141 Minuten, bei den 30- bis 49-Jährigen um 18,0 Prozent auf 223 Minuten und bei den über 50-Jährigen um 18,6 Prozent auf 293 Minuten. Auch bei den gehobenen Zielgruppen nahm die TV -Nutzung im Zeitraum 2000 bis 2011 zu: Bei Zuschauern mit höherer Bildung (weiterführende Schule, Abitur, Hochschule, Studium) erhöhte sich die tägliche Sehdauer um 18,3 Prozent auf 207 Minuten, bei Personen mit höherer Bildung und einem Netto-Haushaltseinkommen von über 3000 Euro stieg sie um 13,6 Prozent auf 150 Minuten.

Ohne Fernsehen? Kein Gedanke!

Was wäre, wenn die Deutschen ein Jahr lang auf die Tageszeitung, das Internet oder gar Fernsehen verzichten müssten? Was würden sie aufgeben: Den entspannten „berieselnden“ Fernsehabend oder das selbstständige Surfen im Internet? Genau diese Fragen hat die Stiftung für Zukunftsfragen, eine Initiative von British American Tobacco, repräsentativ über 2000 Bundesbürgern ab 14 Jahren gestellt. Das Ergebnis ist eindeutig: Lediglich jeder dritte Bundesbürger (32 Prozent) kann sich vorstellen, ein Jahr auf die Programme der Fernsehanstalten zu verzichten. Im Gegensatz dazu würden mehr als zwei Drittel der Deutschen (68 Prozent) dem Surfen im Internet entsagen. Allerdings setzen Jung und Alt deutlich unterschiedliche Prioritäten. So bleibt für die unter 29-Jährigen das Internet die unangefochtene Nummer eins. Jedoch nimmt diese Begeisterung für das Netz mit dem Alter sukzessive ab. Bereits die Mehrzahl der 30- bis 39-Jährigen würde eher auf das Internet als auf den Fernseher verzichten. Bei den 40- bis 49-Jährigen sind es sogar zwei Drittel, bei den 50- bis 59-Jährigen gar drei Viertel und bei den über 60-Jährigen sprechen sich fast alle unisono für das Fernsehprogramm aus.

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