… auf eine Zigarre mit Christian Belz

… auf eine Zigarre mit Christian Belz

Am 8. Mai 2018 hielt Prof. Dr. Christian Belz, Ordinarius für Marketing an der Universität St. Gallen und Direktor am Institut für Marketing, seine Abschiedsvorlesung. Dies hat Christoph Wortmann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut, zum Anlass für ein persönliches Gespräch genommen.

Lieber Christian, seit nunmehr 45 Jahren führt Dich Dein Weg jeden Morgen an unser Institut. Welche Gefühle hast Du beim Gedanken, dass dies bald nicht mehr der Fall sein wird?
Neben unserem Institut gab es zum Glück auch viele spannende weitere Einsätze. Das Leben eines Professors ist abwechslungsreich. Mein Gefühl ist sehr ambivalent. Gleichzeitig fühle ich mich erleichtert und es tut mir weh. Schön ist es immerhin, in Sitzungen Vorschläge zu machen, die ich dann nicht mehr selbst realisieren muss. Zudem bin ich gespannt, wie ich meine nächste Lebensphase meistere.

Und wie sieht diese neue Lebensphase aus? Ändert sich beispielsweise die morgendliche Routine?
Nicht wesentlich. Die Prozesse gleichen sich – nur eben ohne Marketing. Der Tag beginnt um 6.30 Uhr mit Aufstehen. Danach natürlich ein feines Morgenessen mit meiner Frau Ruth und ab 7.30 Uhr ist dann der Arbeitsbeginn als Hilfsarbeiter in der Schreinerei von meinem Sohn Roman und seinem Kollegen Fabian.
Viele Tage werden nicht einfach Routine sein. Eine Konstante bleibt aber: Ich werde die Dinge tun, die ich gerne mache.

Abschiede sind Momente des Innehaltens. Was waren die markantesten Erlebnisse während Deiner Zeit am Institut für Marketing?
Die Institute der Universität St. Gallen werden wie kleine Unternehmen selbstständig geführt. Sie erst schaffen das Potenzial, um die Forschung weiterzutreiben. Diese Herausforderung hat mir stets gefallen. Unser Institut ist eine Leistungsgemeinschaft und eine Familie zugleich. Mit einigen Kollegen ist die Zusammenarbeit konstant, der grösste Teil der Mitarbeitenden erneuert sich aber ca. alle 5 Jahre; das schafft Dynamik. Und mit jeder Generation haben wir die Chance, alles besser zu machen. Markante Erlebnisse sind schwer zu benennen – jeder Mitarbeiter, jedes Unternehmens- und Forschungsprojekt war herausfordernd. Die Liste würde zu lang werden.
Dennoch möchte ich ein paar Schlaglichter setzen. Gehen wir zurück in das Jahr 1994. Da begann ich mit ersten Versuchen, Unternehmen aktiv in die Institutsarbeit einzubinden. Schnell einigte man sich auf das damals hochrelevante Thema „strategisches Direct Marketing“. Nach dieser Gründungsidee erhöhten wir die Schlagzahl. Daraus sind dann im Nachgang die sehr umfangreichen und erfolgreichen Projekte für Reales Marketing, Best Practice in Marketing und Sales Driven Company entstanden. Gerade vor dem Hintergrund eines immer kompetitiver werdenden Weiterbildungsmarktes war das natürlich ein sehr interessantes neues Geschäftsmodell.
Ein weiterer Einschnitt war auch die „Zellteilung“ des Instituts im Jahr 2009. Damals gründeten Torsten Tomczak und Thomas Rudolph ihre eigenen Institute – auch weil wir schlicht zu gross wurden. Im Nachhinein war das genau der richtige Ansatz. Inzwischen sind drei ähnlich grosse Einheiten entstanden, die sich stärker fokussieren. Dabei fühlen wir uns unseren Schwesterinstituten natürlich weiterhin eng verbunden. Bleibt ein letzter Punkt, der mich mit Stolz erfüllt: die Marketing Review St. Gallen, die ich 1984 mitbegründete und für die Du heute zum Glück die Redaktion führst.

Gibt es Dinge, die Du im Rückblick anders machen würdest?
Das ist eine sehr akademische Frage – es macht wenig Sinn, sich mit Vergangenem zu befassen. Ich schaue lieber nach vorne und bin dankbar dafür, was ich erleben konnte. Aber wenn Du mich festnagelst: Ich würde wieder versuchen, meine Arbeit bestmöglich zu erledigen. Es ist meine Passion, mein grosses Los sozusagen und dabei habe ich nie jemals eins gekauft.

Ich möchte hier gerne aber nochmals genauer in die Tiefe gehen. Dein beruflicher Lebensweg ist durch und durch von der HSG geprägt. Hattest Du nie einmal Lust auf eine andere berufliche Herausforderung?
Hier muss ich ein wenig ausholen. Mein grosser Bruder Otti hat an der HSG studiert – also entschloss ich mich, es ihm gleichzutun. Ab dem zweiten Semester habe ich aktiv am Institut gearbeitet, um mein Studium zu finanzieren. Entsprechend weniger war ich in Vorlesungen anzutreffen – man muss früh Prioritäten setzen. Ich organisierte das Seminar für Verkaufsmanagement mit 60 Teilnehmenden. Keine ganz triviale Aufgabe. Nach dem Grundstudium hat sich dann die Frage gestellt, ob ich die Nachfolge im elterlichen Betrieb für Unterhaltungs- und Heimelektroniktechnik in Brazzaville (Kongo) antrete. Es war richtig, dass sich meine Familie dagegen entschieden hat. So blieb ich der HSG und dem Institut weiter treu. Ich übernahm dann die Verantwortung für alle angebotenen Weiterbildungsseminare. Die Arbeit mit den Führungskräften hat mich geprägt. Sie sind das Zielpublikum meiner täglichen Arbeit – nicht die Forschungskollegen. Bei meiner Dissertation suchte ich nach Synergien zu meiner Arbeit und wählte das Thema „Lerntransfer in der überbetrieblichen Weiterbildung von Marketing- Führungskräften“. Aber erst nach der Habilitation zum „konstruktiven Marketing“ ergab sich die Möglichkeit einer neuen Weichenstellung. Wäre ich an der HSG nicht weitergekommen, hätte ich den Weg in die Praxis eingeschlagen. Optionen waren da.
Später als Professor sah ich keinen Grund zum Wechsel. Erstens ist die HSG ein wunderbarer Ort, um zu forschen und zu lehren. Zweitens bin ich als Professor ohnehin für meine Arbeitsschwerpunkte selbst zuständig und ich schätze diese Freiheit ungemein. Trotz dieser Verbundenheit habe ich aber immer versucht, über den berühmten Tellerrand zu schauen. In diesem Zusammenhang sei auf meinen halbjährigen Auslandsaufenthalt in den USA verwiesen. Dort konnte ich mich mit Koryphäen wie Philip Kotler, Michael Porter oder Robert Buzzel austauschen.

Welche Rolle hat Deine Familie für Deine berufliche Entwicklung gespielt?
Leider leben meine Eltern nicht mehr. Mein Bruder Otti ist für mich schon seit jeher eine absolute Vertrauensperson und auch meiner Schwester Heidi stehe ich nahe. Zudem bin ich unendlich dankbar und glücklich, bereits seit mehr als 40 Jahren mit meiner Frau Ruth verheiratet zu sein. Wunderbar sind unsere vier Kinder David, Eliane, Sebastian und Roman. Und auch mit vier Enkelkindern wurde ich bereits beschenkt. Ich lebe mit meiner Frau in einem Mehr-Generationen- Haus. Das gibt Halt und Kraft für schwierige berufliche Entscheidungen. Das wertvollste im Leben wurde mir geschenkt. Das habe ich nicht erarbeitet. Selbstverständlich gibt es manchmal Konflikte zwischen der Familie und dem Beruf. Dennoch gilt für mich die Maxime: Der Beruf ist für die Familie und das Leben da, nicht umgekehrt.

Jetzt ist Deine Zigarre bereits fertig, sollen wir trotzdem fortfahren? Ich habe noch einige Fragen.
Gerne, das liegt nicht an Deinen Fragen, sondern an den langen Antworten.

Als Ordinarius bist Du das Gesicht des Instituts für Marketing. Wie interpretierst Du Deine Rolle als Professor und was hast Du an der Universität St. Gallen bewirkt?
Ich habe stets versucht in Forschung, Lehre, Weiterbildung und Führung des Instituts meine Arbeit gut zu erfüllen. Gut heisst für mich realitätsorientiert, situativ und substanziell. Auch bin ich dankbar für die vielen Erlebnisse und Wege, die ich gemeinsam mit so vielen Persönlichkeiten gehen konnte.
Aber lass mich an dieser Stelle doch etwas ausholen. Mir war es immer ein Anliegen, die Studierenden bestmöglich auf die Praxis vorzubereiten. Dabei habe ich mich nie auf Scheinsicherheiten mit Theorien, Konzepten und Methoden zurückgezogen. Diese Unsicherheit fordert aber auch Studierende heraus. Mir war wichtig, mit der Vielfalt der praktischen Probleme umzugehen. Das ist mir soweit gelungen. Neben den vielen Lehrveranstaltungen, Exkursionen oder Bachelor- und Masterarbeiten erinnere ich mich an zwei Dinge.
Vor der Bologna-Reform kannten wir die Studienrichtungen an unserer Universität. Nahezu jedes Institut war hauptverantwortlich für eine Vertiefung zuständig. Nach der Reform lag unser Fokus auf verhältnismässig wenige „Masterstudiengänge“. Mit dem Master Marketing, Service und Kommunikat ionsmanagement ist es uns gelungen, die Bereiche Versicherungen, Tourismus, Klein- und Mittelunternehmen, Nachhaltigkeit und Ökologie, Handel, Kommunikation und Medien sowie Marketing zu einem gemeinsamen und in sich stringenten Lehrgang zu verknüpfen. Hierzu entwickelten wir mit dem „Customer- Value“-Ansatz ein verbindendes Element. Die Studierenden profitieren damit von einem neuen Gesamtansatz, kombiniert mit Expertise und Verknüpfungen zu unterschiedl ichen Branchen. Die grossen Anstrengungen, um die vielfältigen Kräfte zu bündeln, haben sich gelohnt.
Seit Beginn dieses Masterstudiengangs lancierte ich zudem mit den Kolleginnen und Kollegen die sogenannten Anwendungsprojekte: Teams von Studierenden arbeiten intensiv über drei Semester mit einem Unternehmen zusammen. Diese Form der Zusammenarbeit ist für Unternehmen, Studierende und Dozenten ausgesprochen erfreulich. Ich habe da-raus gelernt, dass sich neue und anspruchsvolle Lernformen an der Universität besonders auf die eigene Initiative der Studierenden stützen müssen. Übernehmen die Studierenden eine Verantwortung für den Ernstfall, so entwickeln sie auch ihre Sozialkompetenz weiter.

Kommen wir zu Deiner Forschungsarbeit. Welche Punkte sind und waren Dir besonders wichtig?
Auf die interessanten Fragen zur Forschung bin ich immer im Gespräch mit Führungskräften gestossen. Dabei habe ich gemerkt, dass selbst bei vermeintlichen Klassikern, wie Segmentierungsansätzen und dem Key- Account-Management, noch viele Fragen offen sind. Grundsätzlich spielt für mich immer eine situative Forschung eine grosse Rolle. Das bedeutet, dass unsere Antworten nicht generisch bleiben dürfen, sondern sich auf die spezifischen Situationen der Unternehmen zubewegen müssen.

Welche Themen hast Du besonders bearbeitet?
Wenn ich einen Blick in mein Literaturverzeichnis werfe, entdecke ich inzwischen rund 480 Eintragungen, davon rund 45 Bücher. Ich bin ein Generalist und habe viele Themen aufgegriffen. Hinzu kommt die stattliche Anzahl von bald 100 Dissertationen, die ich als Hauptreferent betreut habe. Die Zusammenarbeit mit Doktorierenden ist ein wertvolles Potenzial – sie hat meine persönliche Entwicklung massgeblich beeinflusst. Folgende Themen kennzeichnen meine langjährige Forschungsarbeit: Innovatives Marketing, Kunden- und Leistungsmanagement, interaktives Marketing (früher Direkt Marketing) und (internationales) Verkaufsmanagement. Dabei hat mich immer der Umsetzungs- und Realisierungsaspekt im Marketing bewegt und fasziniert. Getreu dem Motto der HSG: „From Insight to Impact“.
Grundsätzlich habe ich immer gerne und viel geschrieben. Das muss auf einen missionarischen Eifer zurückzuführen sein, denn rational lässt sich das kaum richtig begründen.

Und wo siehst Du noch Forschungslücken im Marketing?
Es gibt viele Veröffentlichungen aber zu wenig vernünftige Antworten und Hilfen für die Praxis. Die Frage ist einfach: Welche Situation müssen wir meistern, welche Massnahmen ergreifen wir und welchen Erfolg haben wir damit? Leider hat die Disziplin des Marketings dazu kaum wichtige Fortschritte gemacht. Für mich ist das Marketing vor allem ein anspruchsvoller, individueller Lernprozess von Forschern und Führungskräften. Und ich betone es nochmals der Fortschritt der Disziplin wird überschätzt. Bei vielen klassischen Themen, wie Segmentierung, Verkaufs- oder Kleinkundenmanagement müssen wir unsere Hausaufgaben noch machen.

Grundsätzlich habe ich immer gerne und viel geschrieben. Das muss auf einen missionarischen Eifer zurückzuführen sein, denn rational lässt sich das kaum richtig begründen.

Die aufkommende Digitalisierung verändert die Möglichkeiten stark, wie wir Marketingprobleme lösen können. Zuerst müssen Unternehmen aber definieren, was ihre Herausforderungen sind. Geht es beispielsweise darum, die vielschichtigen Kundenprozesse besser zu begleiten? Oft scheinen mir die Verantwortlichen von den Lösungsmöglichkeiten der Digitalisierung auszugehen und dann nach Problemen zu suchen, die sie angehen können. Das führt immer zu einer Überschätzung und zu mangelnden Fortschritten.
Die ganze Diskussion über Big Data und Artifizieller Intelligenz bleibt oft naiv und zukunftsgläubig. Das lenkt von vielen Herausforderungen ab, die wir zuerst lösen müssen. Ein Beispiel: Ich erlebe oft, dass Manager munter über Big Data und Digitalisierung diskutieren, ohne selbst einmal eine Befragung mit anspruchsvollen multivariaten Methoden ausgewertet und über den oft widersprüchlichen Ergebnissen gebrütet zu haben. Es gibt einfach keinen leicht zugänglichen Sprung in eine digitale Zukunft, welcher die Probleme löst, die wir bisher nicht konsequent angingen. Oft scheint mir, dass die Verantwortlichen hoffen, all die menschlichen Unzulänglichkeiten und mühsamen Verhaltensänderungen zu kompensieren.

 

Wir nähern uns dem Ende, aber zwei Fragen hätte ich noch. Die Erste mit einem persönlichen Hintergrund. Die Forschungswelt im Marketing ist hochkompetitiv. Kannst Du noch mit ruhigem Gewissen empfehlen, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen?
Ich sehe die Problematik, aber die Antwort ist einfach: Der Weg ist richtig, falls die Aufgabe für die eigene Persönlichkeit stimmt. Ich habe in vielen Berufungskommissionen mitgewirkt. Auch bei 60 oder 100 Bewerbungen hatten wir nie mehrere Personen, die wir gleich gerne gewonnen hätten. Kurz: Wenn es passt, so klappt es. Zudem gibt es heute vielfältige Möglichkeiten, um Forschungs- Know-how später als Vorteil zu nutzen. Die Professur an einer Universität ist nur eine Option.

Wagen wir einen Blick in die Glaskugel. Was wird passieren, wenn ich im Jahr 2020 nach den Begriffen Christian Belz und Marketing auf Google suche?
Der Zeithorizont bis 2020 ist zum Glück noch überschaubar. Daher lehne ich mich aus dem Fenster: Man wird Hinweise zu Vorträgen, Publikationen und Aktivitäten finden. Und bei einigen Bildern stehe ich dann vielleicht voll Stolz neben einem selbst gefertigten Schrank aus Kirschbaumholz.

Bitte vervollständige die folgenden Sätze:

Am 8. Mai um 19.00 Uhr werde ich nach der Abschiedsvorlesung …
erleichtert sein und mich darauf freuen, mit vielen – für mich – wichtigen Menschen den Abend zu verbringen.

Doktorvater sein bedeutet für mich …
gemeinsam mit Doktorierenden ein Forschungsprojekt zu gestalten, bei dem persönliche Höchstleistungen möglich sind.

Die Disziplin Marketing wird sich zukünftig …
auf konkrete Geschäftsergebnisse konzentrieren oder an Bedeutung verlieren. Getreu dem Motto: Der Schnee von gestern ist der Matsch von morgen.

Am meisten vermissen, werde ich …
die Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe.

Ein Leben ohne Marketing …
ist für mich möglich, weil das Institut und meine Nachfolger die wichtigen Themen besser als ich weiterführen werden.

Bilder zum Artikel:
Autorin(nen) / Autor(en):
Ordinarius für Marketing des Instituts für Marketing an der Universität St. Gallen
Universität St. Gallen