Bündnis: Europa muss digital souverän werden

Bündnis: Europa muss digital souverän werden

Interview Wie kann Europa digital unabhängig werden von den USTechnologie- Konzernen? BR-Intendant Ulrich Wilhelm setzt sich seit Jahren für eine eigene europäische Infrastruktur ein. Wie die aussehen kann und wer das Projekt unterstützt, erklärt er im Exklusiv-Interview mit marke41.

Europa soll eine eigene digitale Infrastruktur aufbauen. Diesen Appell hat eine hochkarätige Gruppe von Vertretern aus Wirtschaft, Medien und Wissenschaft rund um den BR-Intendanten Wilhelm und den Kuratoriumsvorsitzenden der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften „acatech“, Henning Kagermann, an die Politik gerichtet. Sie fordern, sich aus der Abhängigkeit US-amerikanischer und chinesischer Hightech-Konzerne zu lösen. Ulrich Wilhelm erklärt im Gespräch mit marke41, wie das funktionieren könnte.

Ihre Initiative für eine europäische digitale Infrastruktur findet starke Resonanz. Welches Ziel steht hinter dem Vorstoß?
Ziel ist die Souveränität Europas im Digitalen. Wir erleben in der Corona-Krise überall, wie abhängig wir von digitalen Lösungen aus den USA und zunehmend auch aus China sind. Das zeigt sich bei vielen Themen: E-Schooling, E-Government, E-Health bis hin zur Corona-Tracing-App, bei der ja ohne Google und Apple eine Lösung nicht gelungen wäre, weil wir angewiesen sind auf deren Betriebssysteme. Ein weiterer Trend sind digitale Währungen, die in China bereits Alltag sind, und die – ohne rechtzeitiges europäisches Gegensteuern – unser gesamtes Währungssystem durcheinander wirbeln könnten.
Entscheidend ist: Die heute führenden Technologiekonzerne haben nicht nur einzelne digitale Produkte geschaffen, sondern eine dominierende Infrastruktur, ohne die eine Teilhabe am öffentlichen Leben derzeit kaum vorstellbar ist: von Suchmaschinen über Empfehlungsalgorithmen bis hin zu Videokonferenzsystemen. All das darf aber nicht alleine in der Hand der profitorientierten Geschäftsmodelle von Konzernen aus den USA oder China liegen. Deshalb brauchen wir eine alternative europäische digitale Infrastruktur, die dem Gemeinwohlgedanken Rechnung trägt sowie unserer Rechtstradition und europäischen Werten folgt, unter anderem Transparenz, Schutz der Privatsphäre und Fairness. Ein solcher Raum steht allen in und außerhalb Europas offen. Der Schlüssel zur digitalen Souveränität Europas besteht nicht in Abschottung, sondern in der ambitionierten Gestaltung von Alternativen.

Warum ist eine eigene digitale Infrastruktur für Europa aus Ihrer Sicht so wichtig?
Die aktuelle technologische Abhängigkeit Europas gefährdet nicht nur die industrielle Wettbewerbssituation und damit den Wohlstand der europäischen Gemeinschaft. Die fortschreitende Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitalen Technologien, deren Ausgestaltung Europa nicht mehr hinreichend beeinflussen kann, birgt zudem eine Gefahr für die individuelle Freiheit, vor allem für den Schutz der Privatsphäre und mittelbar auch für die demokratische Werteordnung.

Das Internet ist zur Drehscheibe unseres privaten und gesellschaftlichen Zusammenlebens geworden.

Das Internet ist zur Drehscheibe unseres privaten und gesellschaftlichen Zusammenlebens geworden. Bürgerinnen und Bürgern, Medien sowie anderen Anbietern von Inhalten bleibt keine echte Alterna- tive zu den tonangebenden digitalen Plattformen. Europa hat heute im digitalen öffentlichen Raum die Gestaltungsmacht weitgehend an private Unternehmen abgegeben, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen und bei denen die Einhaltung grundlegender Werte nicht im Vordergrund steht.
Relevanz und Sichtbarkeit von Inhalten werden auf den bestehenden Plattformen durch Algorithmen gesteuert, die primär darauf abzielen, das Aktivitätsniveau jedes Nutzers und jeder Nutzerin zu steigern und auf jede Person individuell zugeschnittene Werbung zu platzieren. Inhaltliche oder qualitative Kriterien spielen dabei eine untergeordnete Rolle: faktenbasierte, hochwertige Inhalte werden auf gleicher Ebene angezeigt wie Fake News, Propaganda und Hass. Besonders problematisch ist das im Zusammenhang mit politischen Inhalten oder gesellschaftlichen Diskursen.
Zudem stellen die amerikanischen und chinesischen Unternehmen essenzielle Daten- und Analyse-Infrastrukturen bereit. In der Folge sind die meisten europäischen Daten außerhalb Europas oder in Europa auf Servern nichteuropäischer Unternehmen gespeichert. Damit diese Daten für weitergehende Wertschöpfung innerhalb Europas zur Verfügung stehen und durch die europäischen Datenschutzregularien wirksam geschützt werden können, muss Europa die Hoheit über diese Daten und die Daten-Infrastrukturen erlangen. Dann erst können Bürger, Unternehmen und Zivilgesellschaft souveräne Entscheidungen über die Nutzung und Nichtnutzung von Daten treffen.

BR-Intendant Ulrich WilhelmUm der Monopolstellung der großen nichteuropäischen Plattformanbieter eine echte Alternative entgegenzusetzen, sollte eine European Public Sphere (EPS) als digitales Ökosystem geschaffen werden, das europäischen Werten folgt.

Wie könnten die nächsten Schritte zur Verwirklichung des Plans aussehen?
Um der geschilderten Problematik wirksam entgegenzutreten, reicht es nicht, lediglich ein besseres Angebot - eine Webseite, eine App oder ein Produkt - vorweisen zu können. Fälle, bei denen vielversprechende Start-ups nach kurzer Zeit Teil des Ökosystems der großen Plattformen geworden sind, sind nur zu zahlreich.
Um der Monopolstellung der großen nichteuropäischen Plattformanbieter eine echte Alternative entgegenzusetzen, sollte eine European Public Sphere (EPS) als digitales Ökosystem geschaffen werden, das europäischen Werten folgt. Der Anspruch sollte hierbei sein, eine offene Infrastruktur zu etablieren, auf deren Grundlage vielfältige Plattformen und Produkte als echte Alternative zu den bisherigen kommerziell getriebenen Angeboten entstehen können. Diese Aufgabe muss als Teil einer öffentlichen digitalen Daseinsvorsorge begriffen werden und verlangt eine durch Regulierung, Standardsetzung und Förderung begleitete staatliche Koordinierung.
Die sogenannte Trio-Ratspräsidentschaft aus Deutschland, Portugal und Slowenien kann mit Frankreich als wichtigem Partner gemeinsam mit Europäischer Kommission und Parlament eine solche European Public Sphere als gesamteuropäisches ambitioniertes Entwicklungsprojekt anstoßen. Stakeholder aus Wirtschaft, Kultur, Zivilgesellschaft und Wissenschaft stehen bereit, bei entsprechender staatlicher Rückendeckung und Unterstützung ein alternatives europäisches digitales Ökosystem zu gestalten.

Kann Europa den kapitalstarken Großunternehmen aus den USA und China überhaupt die Stirn bieten?
Viele Fachleute sind wie ich davon überzeugt. Wenn Europa mit vereinten Kräften handelt, ist es noch nicht zu spät. Es gibt schon viele Einzelinitiativen, es fehlt aber bislang das Bekenntnis zu einer ambitionierten, europäischen, digitalen Gesamtinitiative. Zwar fördern einzelne Staaten mit vielen Programmen die technische Grundlagenforschung. Dagegen fällt es derzeit noch schwer, eine Förderung für fokussierte und übergreifende Innovationen oder für Kommerzialisierung und Distribution von konkreten Produkten im digitalen Raum zu finden. Angesichts der aktuellen Machtverhältnisse im Digitalen reicht es auch nicht, einen Markt nur zu regulieren. Es geht vielmehr darum, einen funktionierenden Markt überhaupt wieder zu schaffen. Europa muss dabei seine Rolle neu definieren. Ohne staatliche Koordinierung, die über Regulierung hinausgeht, wird ein alternatives europäisches digitales Ökosystem keinen Erfolg haben. Mit nur einem kleinen Teil der 750 Milliarden, die Europa für die Bewältigung der Corona-Krisenfolgen ausgibt, wären ein wichtiger Impuls für europäische Start-ups und damit ein gewaltiger digitaler Schub zu erreichen.

Die Fragen stellte Friedrich M. Kirn