Die Renaissance der physischen Markenführung

Die Renaissance der physischen Markenführung

Markenerlebnisse Die digitale Welt dominiert heute unser Denken in den Unternehmen, während die physische Welt und mit ihr physische Waren und Dienstleistungen auch weiterhin den Alltag unserer Kunden prägen werden. Es gilt deshalb, wieder echte Markenerlebnisse zu forcieren und Marken multisensual erlebbar zu machen, zum Beispiel im eigenen Marken-Shop oder auf dem eigenen Messestand.

Die digitale Markenführung ist meist schneller, preiswerter und bequemer. Sie bietet alles – jederzeit und überall. Ihr Siegeszug scheint unaufhaltsam zu sein. Wenn da nicht wir analoge Wesen wären und Millionen analoger Produkte und Dienstleistungen. Wir Menschen sind nach wie vor aus Fleisch und Blut – und emotional. Deshalb wird zukünftig vieles digital sein, aber nicht alles. Hinzu kommt, dass weit über 90 Prozent dessen, was wir konsumieren, physisch ist – und bleibt. So werden wir zum Beispiel auch in Zukunft keine „Bits und Bytes“ verspeisen oder „Cookies“ zum Nachtisch essen. Wir werden auch weiterhin aus Tellern aus Porzellan essen, auf Lederstühlen und an Holztischen sitzen. Wir leben auch zukünftig in Häusern aus Stein und Styropor, fahren Autos aus Kunststoff und Metall und kleiden uns in modisch gefärbte und geschnittene Stoffe aus Natur- und Kunstfasern.
Gleichzeitig hat die Digitalisierung eine Vielzahl neuer Produkte und Dienstleistungen hervorgebracht. Viele bestehende Leistungen wurden verändert, verbessert und vereinfacht. Hinzu gekommen sind durch die Digitalisierung neue Formen des medialen Dialogs. Sie ergänzen die Gespräche in Geschäften, bei Events, auf Messen und bei Außendienstbesuchen. Und dennoch werden letztere in Zukunft wieder vermehrt physisch stattfinden. Sie haben – auch in der Wahrnehmung der Kunden – kaum an Bedeutung verloren. Es gilt weiterhin: Märkte sind Gespräche! Und sie bleiben es!

Digitale Markenführung dominiert

Gleichzeitig zeigt ein Zeitvergleich der laut Interbrand 25 wertvollsten Marken der Welt, dass in den letzten 20 Jahren eine klare Verschiebung hin zu digitalen Lösungen stattgefunden hat. Waren im Jahr 2002 noch gut zwei Drittel (68%) der Leistungen der Top-25-Marken weltweit primär physisch geprägt, so waren es 2022 nur noch weniger als die Hälfte (44%). Zugleich zeigen Studienergebnisse zu aktuellen Marketingtrends, dass das Kundenbeziehungsmanagement an erster Stelle steht. Eine Auswertung von 16 Definitionen digitaler Markenführung wiederum bringt fünf inhaltliche Schwerpunkte hervor: Branding, Vernetzung, Technologie, Offenheit und Erlebbarkeit. Dementsprechend lässt sich digitale Markenführung wie folgt definieren:
Die digitale Markenführung erweitert die Aufgaben und Möglichkeiten der klassischen Markenführung zum einen im Hinblick auf eine größere Offenheit, was interne und externe Impulse betrifft. Zum anderen nutzt sie alle geeigneten technologischen Möglichkeiten für eine größere kommunikative Reichweite, emotionale Relevanz und Resonanz. Ein wichtiger Erfolgsfaktor hierfür ist eine weitreichende kommunikative Stimmigkeit – nicht zu verwechseln mit Einförmigkeit – an allen Berührungspunkten mit den Kunden und weiteren Stakeholdern. Ziel ist und bleibt es, Marken selbstähnlich und sinnstiftend zu führen und für Mitarbeiter und Kunden gleichermaßen erlebbar zu machen, um auf diese Weise Wert für das Unternehmen zu generieren.
Uns allen hat die Pandemie die Grenzen der digitalisierten Welt im Allgemeinen und die Grenzen der digitalen Markenführung im Besonderen aufgezeigt. Digitale Lösungen sind für die Nutzer meist bequemer und preiswerter, allerdings sind sie vielfach auch weniger anregend und ansprechend. Was fehlt ist der „Human Touch“! Die menschliche Komponente würde zu kurz kommen, wenn alles nur noch in digitalen Umfeldern wie dem Metaverse stattfinden würde.

Es gilt weiterhin: Märkte sind Gespräche! Und sie bleiben es!

Mit Chatbots zu schreiben oder mit Voicebots zu sprechen, ist für viele Fragestellungen sinnvoll. Für komplexere oder persönlichere Fragestellung reicht ein digitaler Dialog allerdings oft noch nicht aus. Es fehlen Empathie und Blickkontakt. Es fehlt ein Schulterklopfen, der Duft, der einen Raum erfüllt oder die Aura, die von einer Person ausgeht. Es fehlt die Musik samt einem Potpourri an Geräuschen, was manchmal stört, oft aber auch einfach dazugehört.

Echte Markenerlebnisse sind prägend

Wenn uns der Lockdown eines gelehrt hat, dann, dass wir soziale Wesen sind und für ein erfülltes Leben den sozialen Kontakt und den sozialen Austausch mit anderen brauchen. Social Distancing entspricht nicht unserem Naturell. Wir wollen zusammenleben, miteinander etwas erleben, gemeinsam feiern, Festivals besuchen und Filme anschauen. Gerade kulturelle Veranstaltungen können nur teilweise digitalisiert werden. Ein Theatersaal in der Altstadt, ein Rockkonzert auf der grünen Wiese, Kunstwerke an den Wänden einer Galerie oder in einem schon allein von der Architektur her außergewöhnlichen Museum – all das hat sein besonderes Flair, eine Aura der Echtheit und Nahbarkeit durch die Anwesenheit anderer Menschen. Nicht immer sind diese Menschen angenehm, oft aber sind sie es doch! Wir lernen andere Menschen kennen, beobachten interessiert kleine „Schauspiele“ im Laden oder Ausstellungsraum – gleichsam der Bühne des gemeinsamen Lebens. Das Drumherum ist ein wichtiger, oft unverzichtbarer Teil des Erlebnisses. Das Umfeld prägt und verstärkt das Erlebnis. Das gilt auch für Markenerlebnisse.

Am Ende gilt es, den Kunden einzigartige Markenerlebnisse zu bereiten.

Sinnvolle Marken-Shops und Messestände

Für die multisensuale Ausgestaltung von zum Beispiel Marken-Shops und Messeständen bieten sich zahlreiche Möglichkeiten an. Ziel ist es, Kunden über mehrere, idealerweise alle Sinne anzusprechen und dabei die Besonderheiten der Marke bestmöglich zu vermitteln, ohne dass es aufdringlich wirkt. Idealerweise werden die multisensualen Reize weitestgehend unbewusst verarbeitet, während sie zugleich ein bewusstes Gefühl des Dazugehören- oder Habenwollens hervorrufen.

 
Optik

Aufbau: Primäres Ziel festlegen, etwa die Besucherzahl maximieren, neue Produkte vorstellen oder Fach- bzw. Verkaufsgespräche führen. Entsprechend den dazu passenden Zonentyp maximieren, zum Beispiel für Kundengespräche auf Messen den Besprechungsbereich möglichst groß gestalten.
Farbgebung: Primär mit den Unternehmensfarben arbeiten. Eigener Geschmack und Trendfarben sind sekundär.
Gestaltung: Auf lange Texte möglichst verzichten. Kurze, zentrale Aussagen in Textform und ein hoher Anteil an Schlüsselbildern und Farbflächen wecken mehr Interesse.
Beleuchtung: Die richtige Beleuchtungstechnik rückt die Verkaufs- bzw. Präsentationsfläche ins richtige Licht. Ein Farbwechsel erzeugt zusätzlich Aufmerksamkeit. (Auch hier empfiehlt es sich, die Unternehmensfarben zu verwenden!)
Personal: Durch einheitliche Kleidung wird die Unternehmenszugehörigkeit sichtbar. Häufig sind einheitliche Accessoires ausreichend!

 
Akustik
Musik: Dezenten Einsatz in Erwägung ziehen, da dadurch der Aufenthalt der Besucher verlängert werden kann. Besonders empfehlenswert ist Musik bei „Lärm“ durch Geräte oder Stühle.
 
Haptik
Berührung: Durch das „Begreifen“ der Produkte bekommen die Besucher einen wesentlich intensiveren Bezug zur Marke. Geräte oder Installationen, die Interaktionsmöglichkeiten bieten, verstärken diesen Effekt zusätzlich!
Bodenbeschaffenheit: Eintrittsbarrieren wie Bodenschwellen vermeiden. Am besten einen einheitlich beschaffenen Boden verwenden.
Werbegeschenke: Am einfachsten hält man sich durch „begreifbare“ Give-aways inklusive Aufdruck des Markennamens in Erinnerung – und im Gespräch. Auch hier ist Kreativität gefragt. (Kulis, Bonbons und Schokoladentäfelchen gibt es fast überall.)
 
Geruch und Geschmack
Geruch: Mit geruchsfreien Essenzen lassen sich unangenehme Gerüche von Produkten und Verpackungen sowie von Bodenbelägen, Möbeln und Stellwänden neutralisieren. Dezente Raumbeduftung sorgt zudem für Aufmerksamkeit und Frische.
Verköstigungen: Kleinigkeiten sind meist ausreichend. Häufig lässt sich auch beim Essen und Trinken mit Kreativität punkten!

Wer demgegenüber Veranstaltungen und Events via Zoom oder Teams verfolgt, erlebt das alles meist nicht (mehr). Dadurch geht viel Lebensqualität und Sinnlichkeit verloren. Seit ein paar Jahren zeichnet sich deshalb ein Gegentrend ab, der weiter an Bedeutung gewinnen dürfte: die Sehnsucht nach wahrhaften, physischen Erlebnissen. Menschen wollen zunehmend über alle Sinne angesprochen werden. Dies gelingt der sinnlich lediglich ein- bis zweidimensionalen digitalen Welt bis auf Weiteres nicht. Der Verkaufsort wird deshalb immer mehr zum Erlebnisort, der Point of Sale (PoS) zum Point of Experience (PoE) und damit zu einem Ort unverwechselbarer, einprägsamer Markenerfahrungen. Typische Beispiele sind Markenparks, Markenevents und Markenverkaufsorte, zum Beispiel Marken-Shops (Abb. 1). Viele Markenerlebniswelten mussten in den letzten drei Jahren zeitweise pausieren. Es ist zu erwarten, dass die genannten Erlebnisformate in den nächsten Jahren wieder deutlich an Bedeutung gewinnen werden. Die Menschen sind es leid, zu Hause zu bleiben oder sich nur in einem engen Radius zu bewegen. Viele von uns wollen sich wieder von einzigartigen Marken berühren und verführen lassen.

Intensified Reality als Perspektive

Neben technischen Lösungen wie Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) könnte deshalb zukünftig unser Wunsch nach einer Intensified Reality (IR) stärker werden. Gemeint ist eine Intensivierung der Realität – ohne oder nur mit einfachen digitalen Hilfsmitteln. Möglich wird dies insbesondere durch die konzertierte Ansprache aller fünf Sinne und die Verbindung einzelner Erlebnisse durch geschicktes Storytelling.
Damit wird klar: Der Möglichkeitenraum der Markenführung hat sich nicht primär verschoben, sondern vor allem in hohem Maße erweitert. Neben analogen Leistungen kommen immer häufiger digitale Möglichkeiten und sogar rein digitale Angebote dazu. Gleichzeitig führt der Wegfall von drei bis vier Sinneseindrücken in der digitalen Welt dazu, dass sich die Menschen nach multisensualen Markenerlebnissen sehnen. Die Markenführung im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sollte diesem Spannungsverhältnis Rechnung tragen und aus dem Spannungsverhältnis ein spannendes Verhältnis machen, bei dem sich beide Welten gegenseitig verstärken. Am Ende gilt es, den Kunden einzigartige Markenerlebnisse zu bereiten. Ob das digital oder multisensual erfolgt, ist jedem Unternehmen selbst überlassen. Die Kunden entscheiden, was sie möchten – und wann sie was wie erhalten und erleben möchten.

Die Kunden entscheiden, was sie möchten – und wann sie was wie erhalten und erleben möchten.

Auf der gesellschaftlichen Ebene bleibt noch die Frage, ob wir in perfekt „durchleuchteten“ und überwachten digitalen Lebensräumen dauerhaft unser Glück finden werden oder ob wir uns möglicherweise wieder verstärkt nach nicht perfekt „ausgeleuchteten“ Lebensräumen sehnen. Idealerweise streben wir nach beidem. Damit einher geht die Hoffnung, dass die physische Erlebniswelt möglicherweise auch in Zukunft nicht vollständig automatisiert und durchweg digitalisiert sein wird – vielleicht zum Glück.

 

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Autorin(nen) / Autor(en):
Professor für Marketing und Markenmanagement
Hochschule Würzburg