Veränderungen im Essverhalten – Anforderungen an Verkaufskonzepte im Lebensmittelhandel

Veränderungen im Essverhalten – Anforderungen an Verkaufskonzepte im Lebensmittelhandel

Das Essverhalten der Konsumenten nimmt hybride Züge an. Je nach Verzehrsituation kommen spezifische Ernährungsbedürfnisse zum Tragen. Dies kann zu falschem Ernährungsverhalten führen, was gesundheitlich negative Folgen haben kann. Weltweit sind die Zahlen übergewichtiger Personen alarmierend. Es stellt sich daher die Frage, wie sich die Situation verbessern lässt und welche Forderungen an bestehende Verkaufskonzepte daraus resultieren.

Die Anbieter auf dem Foodmarkt setzen heutzutage vor allem auf Produktveränderungen, um den Ernährungsbedürfnissen der Konsumenten gerecht zu werden. Doch genügt das? Die Anforderungen an neue Verkaufskonzepte gehen unseres Erachtens einen Schritt weiter. Abgesehen von Produktveränderungen müssen Verkaufskonzepte auch Verzehrgewohnheiten berücksichtigen. Mit anderen Worten: Es geht bei der Entwicklung neuer Verkaufskonzepte für den Lebensmittelhandel nicht nur darum, gesündere Produkte und Speisen zu entwickeln, sondern diese gleichzeitig auch an die richtigen Verzehrorte zu bringen. Der nachfolgende Artikel zeigt erstens auf, welche gesellschaftliche Herausforderung das veränderte Ernährungsverhalten mit sich bringt, und geht zweitens der Frage nach, welche Anforderungen künftige Verkaufskonzepte erfüllen müssen. Diese Anforderungen werden aus den Ergebnissen der Essund Verzehrstudie des Forschungszentrums für Handelsmanagement abgeleitet.

Ernährung als zentrale gesellschaftliche Herausforderung des kommenden Jahrzehnts

Obwohl das Gesundheitsbewusstsein in der Gesellschaft steigt, nimmt die Zahl der Übergewichtigen weiterhin zu (Stremersch 2008). Dies deutet darauf hin, dass sich viele Konsumenten trotz guter Absicht, in vielen Verzehrsituationen (teilweise notgedrungen) ungesund verhalten.
Die Literatur identifi ziert und diskutiert verschiedene Ursachen von Fehl-Ernährung und Übergewicht. Obwohl die genetische Veranlagung in gewissen Fällen für Übergewicht verantwortlich gemacht werden kann, trifft dieser Grund nur bedingt zu. Signifi kante genetische Veränderungen fi nden nur sehr langsam statt, weshalb die Genetik nicht der alleinige Auslöser für Übergewicht sein kann (Anderson et al. 2003). Neben biologisch-metabolischen Aspekten rücken immer mehr externe und verhaltenswissenschaftliche Faktoren in den Mittelpunkt der Diskussion. So kann Bewegungsmangel oder der Einfl uss anderer Personen und deren Art und Weise, sich zu ernähren, das Essverhalten einer Person beeinfl ussen. (Herman et al. 2003). Ebenso spielen die Motivation oder die Selbstdisziplin von Konsumenten als Beispiele psychologisch begründeter Verhaltensaspekte eine bedeutende Rolle bei der Ernährung (Rosin 2008).

Repräsentative Konsumentenbefragung zum Ess- und Verzehrverhalten

Die Verführung zu ungesunder Ernährung ist groß, zumal wir täglich 250 essensbezogene Entscheidungen fällen (Wansink 2006). In etlichen Verzehrsituationen, z.B. am Pausenkiosk oder an der Würstchenbude, stehen nur wenig gesundheitsfördernde Alternativen zur Verfügung.
Wie aber müssen die Unternehmen ihr Produktangebot ausrichten und auf die veränderten Verzehrgewohnheiten eingehen, um die Bedürfnisse der Konsumenten zu befriedigen? Das Forschungszentrum für Handelsmanagement an der Universität St.Gallen hat bereits zum dritten Mal eine repräsentative Umfrage mit über 1000 Konsumenten zum Ess- und Verzehrverhalten durchgeführt. Die Studie macht deutlich, dass sich die Konsumenten vermehrt situationsbedingt verpfl egen.
Während das Thema Ernährung bei den Konsumenten insgesamt an Bedeutung gewonnen hat, sinkt die Zufriedenheit mit dem eigenen Ernährungsverhalten. So zeigen die Resultate der aktuellen Ess- und Verzehrstudie, dass über 70 Prozent der befragten Konsumenten die Ernährung für wichtig bis sehr wichtig halten, gleichzeitig aber ein Drittel der Befragten mit dem eigenen Ernährungsverhalten unzufrieden ist. Des Weiteren erachten 65 Prozent der Befragten gesundes und genussvolles Essen als besonders wichtig. Man nimmt sich für das Essen aber immer weniger Zeit. Es muss schnell gehen. Innerhalb von drei Jahren ist die Bedeutung der Schnellverpfl egung von 17 Prozent auf knapp 21 Prozent gestiegen.
Mit der steigenden Bedeutung des Themas Ernährung ist auch das Qualitätsbewusstsein der Konsumenten gestiegen, was sich durch eine kritischere Haltung gegenüber dem Lebensmittelangebot äußert. Besonders Take-away- und Convenience-Produkte leiden unter einem negativen Image. Trotz Anstrengungen der Lebensmittelindustrie nehmen diese Produkte die hinteren Plätze der Lebensmittelangebote ein. So zeigt die Studie, dass knapp 33 Prozent der Befragten Essen zum Mitnehmen (z.B. Sandwich) bemängeln. In der Beliebtheitsskala belegen diese Angebote den letzten Rang. Auch gegenüber frischen Fertiggerichten und Tiefkühl- Fertiggerichten herrschen große Vorbehalte, insbesondere wegen der Lebensmittelzusatzstoffe (Rudolph/ Glas/Berchtold 2008).

Anforderung 1: Das Convenience-Angebot muss mehreren Ernährungsbedürfnissen gleichzeitig gerecht werden

Das gestiegene Ernährungsbewusstsein und der Konsumentenanspruch nach einer schnellen Verpfl egung fordern von allen Akteuren, sich insbesondere mit Convenience- Produkten intensiver auseinander zu setzen, weil in dieser Warengruppe ein erhebliches Wachstums- und Ertragspotenzial liegt. Das Bedürfnis nach schnellem Essen ist nicht nur bei den üblichen Schnell-Verzehrorten wie „über die Gasse“ (61 Prozent), „im Supermarkt an der warmen Theke“ (49,54 Prozent) oder „am Arbeitsplatz“ (50,75 Prozent) von Bedeutung, sondern steigt auch kontinuierlich bei den Verzehrsituationen „zu Hause Mittag essen“ (innert drei Jahren um 35 Prozent gestiegen) und „zu Hause Nacht essen“ (innert drei Jahren um 55 Prozent gestiegen).
Für diese Situationen muss, neben einer geschmacklichen Verbesserung, auch die Auswahl der Convenience- Produkte optimiert werden. So könnten Händler beispielsweise präparierte Produkte von verschiedenen Nahrungsmittellinien Zum-Selber-Zusammenstellen anbieten. Dieses Angebot hat einerseits den Vorteil, dass der Kunde eine eigene Zusammenstellung für das bevorzugte Essen vornehmen kann und andererseits gibt diese Art von Einkauf dem Kunden das Gefühl, eigenständig eine Mahlzeit zuzubereiten.
Zudem müssen Verpflegungsstandorte, die einen schnellen Verzehr ermöglichen, gleichzeitig auch eine entspannte Atmosphäre ausstrahlen. Dieser Anspruch erfordert, nicht nur gesundes Essen und Trinken zu verkaufen, sondern mit der Einrichtung auch ein authentisches Lebensgefühl zu erzeugen, das der Lebenswirklichkeit der Verbraucher entspricht.

Anforderung 2: Neben Sachinformationen am Point of Sale müssen Ernährungsratschläge emotional aufgeladen werden

Die Studienergebnisse beschreiben darüber hinaus die Relevanz unterschiedlicher Informationsquellen zum Thema Ernährung. Die zwei mit Abstand am meisten genutzten Informationsquellen sind Informationen zu Produkten (17,2 Prozent) und Rat von Freunden/Verwandten (16,9 Prozent).
Beide Informationsquellen entziehen sich weit gehend dem Einfl uss von Handelsunternehmen. Auf die Meinungen sozialer Referenzgruppen kann ein Unternehmen nur indirekt Einfl uss ausüben, ebenso wie die von Gesetz wegen auf Verpackungen angebrachten Nahrungsmittelinformationen. Für die Praxis ergibt dies aber dennoch Handlungsbedarf. Dem Moment der Produktwahl im Supermarkt oder in einem Restaurant muss mehr Beachtung geschenkt werden.
Leider verfehlen viele teure Kommunikationsmaßnahmen ihr anvisiertes Ziel. Gemäß unserer Studie sind 75 Prozent der Befragten überzeugt, über das nötige Wissen zur richtigen Ernährung zu verfügen und erkennen dadurch den Nutzen von Informationsquellen zum Thema Ernährung immer weniger. Dies ist erstaunlich. Erachten doch über 70 Prozent der Befragten das Thema Ernährung als wichtig, sind aber gleichzeitig mit ihrem Ernährungsverhalten unzufrieden. Dieses Dilemma muss bei der Kommunikationsumsetzung der betroffenen Unternehmen berücksichtigt werden.: Die Informationen müssen auf einen Blick erfassbar und verständlich sein. Dem Konsumenten muss nach dem Betrachten der Information klar sein, was er isst, und welchen Mehrwert er mit dem Kauf des Produkts erwirbt. Eigenmarkenprodukte könnten mit einem Symbol für gesunde Ernährung gekennzeichnet werden. Albert Heijn beispielsweise kennzeichnet jene Eigenmarkenprodukte, die als besonders gesund erachtet werden, mit einem vierblättrigen Kleeblatt. Alle Produkte mit diesem Gütesiegel erfüllen folgende vier Kriterien • Tiefer Zuckergehalt • Wenig gesättigte Fette • Tiefer Salzwert • Hoher Anteil an Ballaststoffen Mit dieser Information wird den Konsumenten kurz und prägnant mitgeteilt, ob dieses Produkt gesund ist.

Verpackungsinformationen könnten zusätzlich mit gezielten visuellen Hilfsmitteln unterstützt werden. Große Plakate, die eine Szene beim Brotbacken darstellen, können z.B. Emotionen und Erinnerungen beim Konsumenten wachrufen, wie in guten alten Zeiten Brot gebacken wurde. Die Konsumenten wollen heute wieder Tradition, Natürlichkeit, Geschmack und Qualität erkennen. Diese Stichwörter müssen visualisiert und lebbar gemacht werden.

Anforderung 3: Konzertierte Aktionen zur nachhaltigen Profilierung

Basierend auf den Daten der Ess- und Verzehrstudie zeigt sich des Weiteren die Bedeutung branchenübergreifender Kooperationen. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt in der Motivation oder Selbstdisziplin der Konsumenten, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen.
In der Studie wurden verschiedene Aussagen mit unterschiedlichen Parametern auf intrinsische und extrinsische Motive zur Ernährung untersucht. Die Erhebung zeigt, dass die Befragten bei der Ernährung tendenziell intrinsisch motiviert sind. Betrachtet man die Mittelwerte unterteilt nach Geschlecht, so ist festzustellen, dass sich Frauen (Mittelwert = 5,9) intrinsischer verhalten als Männer (Mittelwert = 5,5). Eine Auswertung nach Alter ergibt, dass Konsumenten ab 40 Jahren intrinsischer motiviert sind als die jüngeren Alterskategorien. Die Altersgruppe der unter 30-Jährigen scheint durch externale Einfl üsse stark von einer gesunden Ernährung abgehalten zu werden. Eine Auswertung nach Ausbildungsstand zeigt, dass sich mit steigendem Bildungsniveau die intrinsische Motivation erhöht.
Die Auswertungen lassen erkennen, dass insbesondere die Entwicklung der unter 30-Jährigen besorgniserregend ist. Sie erkennen eine hohe Notwendigkeit, die Ernährungsweise zu ändern, besitzen aus eigener Sicht dazu aber weder Disziplin (Mittelwert = 3,77), Zeit (Mittelwert = 3,48) noch Geld (Mittelwert = 3,25) (Abbildung Seite 85).
Diese Bevölkerungsgruppe setzt sich aus Schülern, Studenten oder jungen Berufseinsteigern zusammen. Hier könnten Industrie, Handel und Gastronomie zusammen mit Bildungsinstitutionen und Privatwirtschaft versuchen, in Form von Kooperationen spezifi - sche Ernährungsaktionen anzubieten. Z.B. könnte ein Detailhändler mit einer Universität oder mit einer Kaufmännischen Schule „Gesundheitswochen“ durchführen (Aktionsstände mit Informationen und Abgabe bzw. Verkauf von gesunden Produkten).
Wie eingangs erläutert, tragen viele Faktoren zu Fehl- Ernährung und Übergewicht bei. Einzelne Maßnahmen bringen wenig; vielmehr sollten Hersteller, Handel, Restaurants, Spitäler, Eltern, Gesundheitsinstitutionen usw. gemeinsam an einer Verbesserung arbeiten.
Diese Forderung lässt sich mit der zugrunde liegenden Komplexität begründen. Das St.Galler Management- Modell illustriert die komplexen und vielschichtigen Umweltbedingungen für diese Herausforderung (Rüegg-Stürm 2002). Vier Sphären, d.h. Wirtschaft, Technologie, Natur und Gesellschaft sind von den oben genannten Akteuren zu beachten. Eine solche Herausforderung stellt auch das Thema „Gesundheitsbewusste Ernährung“ dar.
Das Rahmenmodell fordert die Akteure dazu auf, konzertierte Aktionen zu planen. Es gilt, zeitgemäße Verzehrkonzepte für Jugendliche, Vielbeschäftigte, Berufstätige ohne Mittagspause, aktive Single-Rentner usw. zu entwickeln, welche eine gesunde Ernährung fördern, ohne allerdings diese Zielgruppen zu bevormunden.
Food Trust – eine amerikanische Stiftung, welche sich dafür einsetzt, die Ernährung der amerikanischen Bevölkerung zu verbessern, arbeitet in enger Kooperation mit der Stadt Philadelphia. Durch Sponsoring bringt Food Trust Früchte und Gemüse in Primarschulen und zu den Wochenmärkten in Wohngegenden, in denen diese Mangelware sind. Ebenso bemüht sich die Stiftung, Supermärkte wieder zurück in die „ärmeren“ Wohnviertel zu bringen. Die Initiative von Food Trust zeigt beachtliche Erfolge. Die Anzahl von übergewichtigen Schülern konnte um 50 Prozent reduziert werden, weil sich das Angebot von Früchten und Gemüse in Primarschulen verbessert hat und die Kinder Ernährungsunterricht erhalten (Walsh 2008). 

Das Beispiel macht Hoffnung. Fehl-Ernährung und Übergewicht können in ihrer Verbreitung aufgehalten werden. Offensichtlich müssen dazu aber viele Marktakteure zusammenarbeiten. Konzertierte Aktionen sind auch in Westeuropa anzustreben. Nur so lassen sich amerikanische Verhältnisse vermeiden. Darüber hinaus fordert unser Artikel, dass den Ernährungsbedürfnissen, welche vermehrt in kombinierter Form auftreten, vor allem im Convenience-Bereich mehr Beachtung geschenkt werden soll. Auch gilt es, die Kommunikationsaktivitäten am Point of Sale emotional stärker in Szene zu setzen. Nur mit diesen Forderungen lassen sich die Verkaufskonzepte optimieren.

Literatur

Anderson, P.M./Butcher, K.F./Levine, P.B. (2003): Economic Perspectives on Childhood Obesity, in: Economic Perspective, 27, S. 30–49.
Herman, C.P./Roth, D.A./Polivy, J. (2003): Effects of the presence of others on eating: A normative interpretation, in: Psychological Bulletin, 129, S. 873–886.
Rosin, O. (2008): The Economic Causes of Obesity: A Survey, in: Journal of Economic Surveys, 22, 4, S. 617–647.
Rudolph, T./Glas, A. (2008): Food Consumption 2008: Ess- und Verzehrverhalten in der Schweiz, St.Gallen.
Rudolph, T./Glas, A./Berchtold, O. (2008): Convenience Food in der Schweiz, Arbeitspapier der Universität St.Gallen.
Stremersch, S. (2008): Health and Marketing: The Emergence of a New Field of Research, 25, S. 229–233.
Walsh, B. (2008): It's not just Genetics, in: Time, June.
Wansink, B. (2006): Mindless Eating – Why we eat more than we think, New York

Autorin(nen) / Autor(en):
Research Assistant und Doctoral Candidate
Universität St.Gallen
Direktor des Forschungszentrums für Handelsmanagement
Universität St.Gallen